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Die
Falsche
Blume

2

Es war schon Ende Mai des Jahres 1880 in der Gegend von Altendorf nahe Sebnitz in der Sächsischen Schweiz – doch der Winter wollte und wollte kein Ende nehmen. Dicke Eisschichten bedeckten das Land und fast jede Nacht schneite es erneut. Die Menschen

waren verzweifelt und man munkelte bereits über eine neue Eiszeit. Selbst das traditionelle Austreiben des Winters zu Fastnacht hatte keine Veränderung gebracht. Die ärmliche Landbevölkerung litt Hunger, die Bauern konnten nicht säen und die Wintervorräte waren fast aufgebraucht. Die einzige Arbeit, die noch Einkommen brachte, war das “blümeln”.

Die Bauern saßen zu Hause in ihren Stuben und banden Kunstblumen, welche sie für den

Blumenfabrikanten Louis Meiche aus der Stadt Sebnitz anfertigten. Das Geschäft mit den

Kunstblumen gedieh zu dieser Zeit prächtig, da die Leute aus der Sebnitzer Gegend sich

als sehr geschickt in dem Handwerk erwiesen und ihre Blumen in die ganze Welt exportiert

wurden.

Unter den Blumenheimarbeitern war auch das zarte und hübsche Mädchen Lore Albrecht.

Sie hatte ihr Handwerk bereits im Alter von acht Jahren erlernt. Ihre Eltern waren früh

gestorben und sie lebte nun bei ihrer Großmutter auf einem kleinen Hof, der kaum das

Nötigste zum Leben abwarf. Trotz ihres Alters von mittlerweile 21 Jahren war sie noch

ungebunden. Von jeher war sie störrisch und dickköpfig gewesen. So kam es ihr eines Tages

in den Sinn, nicht nur Blüten nach dem Vorbild der Natur zu fertigen. Angeregt vom Weiß

der Schneeglöckchen – ihrer Lieblingsblumen, da sie den Frühling einläuten – ließ sie sich

zu den fantastischsten und außergewöhnlichsten Blütenformen hinreißen.

Als die Großmutter die ungewöhnlichen Erzeugnisse von Lores Phantasie entdeckte,

redete sie streng auf sie ein: Louis Meiche werde ihr solch merkwürdigen Blüten niemals

abkaufen, sie seien gegen die Natur. Ihr aller Überleben sei von dem Verdienst abhängig,

deswegen solle sie die gleichen Blumen wie immer fertigen, wie es auch alle anderen tun.

Lore aber zeigte keine Einsicht. Bei der Auseinandersetzung mit der Großmutter stach sie sich unachtsam mit der Nähnadel in den Finger und das Blut tropfte auf den Rand ihrer

weißen Kunstblüten. Nach dem ersten Schreck fand sie Gefallen an der Verfärbung und

schließlich versah sie auch alle anderen Blumen mit ihrem Blut.

Trotz schwerer Schneestürme machte sie sich am nächsten Morgen auf den Weg nach Sebnitz.

Tief gebeugt zog sie ihren mit Kunstblumen beladenen Schlitten durch den Pulverschnee.

Nach einigen Stunden mühseligen Wanderns sah sie endlich aus der Entfernung die

Umrisse der Manufaktur. Sie hatte sich als einzige des gesamten Umlandes bei diesem

stürmischen Wetter auf den Weg gemacht und wurde sofort zu Louis Meiche – von seinen

Angestellten heimlich gerne „Geldsack“ genannt – vorgelassen. Als der Geschäftsmann

die mit Blut verzierten Kunstblüten des Mädchens sah, war er entsetzt. Solch eine Blume kannte er nicht, sie hatte weder Ursprung noch Namen. Er weigerte sich, die Kreationen

anzunehmen und schickte das Mädchen wieder nach Hause. Lore war verzweifelt und bereute nun ihre Dickköpfigkeit. Da der Sturm etwas nachgelassen hatte, beschloss sie, eine Abkürzung über den zugefrorenen Sebnitzer Fluss zu nehmen.

Wirre Gedanken schossen ihr durch den Kopf, als sie die Eisfläche betrat. Eigentlich hätte

sie Brot von dem Verdienst kaufen sollen und nun stand sie mit leeren Händen da. Wie

sollte sie sich und ihre Großmutter in den nächsten Tagen ernähren? Als sie schon fast

das andere Ufer erreicht hatte, krachte und knackte es plötzlich im Eis, auf dem sie lief.

Lore brach ein und sank bis zum Oberkörper ins Eiswasser. Sie strampelte und versuchte

vergeblich, sich zurück aufs Eis zu ziehen. Da kam ihr plötzlich der Flussteufel in den

Sinn. Von jeher war sie ermahnt worden, nicht auf dem gefrorenen Fluss zu laufen, um

den Teufel nicht zu stören. Nun rief sie in ihrer Verzweiflung laut nach ihm. In seinem

Winterschlaf unterbrochen erboste sich der Flussteufel zunächst über das schreiende und

um sein Leben kämpfende Mädchen, bekam dann aber doch Mitleid und gab sie mit einem

Schub frei.

Zitternd und frierend schleppte Lore sich mit ihrem Schlitten den langen Weg nach Hause,

wo sie in der Stube zusammenbrach. In den Armen der Großmutter erzählte das Mädchen

mit hohem Fieber, was sie erlebt hatte und starb noch in der selben Nacht.

Wie es der Brauch bei verstorbenen Jungfrauen erforderte, fertigte die Großmutter einen

Totenkranz. Aus der Not heraus und weil sie nichts anderes hatte, band sie das Gesteck aus

Lores Phantasieblumen. Bei der Beerdigung Anfang Juni lag noch immer hoher Schnee.

Als der Sarg bei der Prozession zur Kapelle getragen wurde, fegte plötzlich ein Windstoß

den Totenkranz vom Sarg. Er wirbelte durch die Luft, bis er seitlich des Weges im Schnee

zu liegen kam.

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